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Carla Pohl

Ein Tag mit Dorothea Lange


Eine
Mutter blickt gedankenversunken an der Kamera vorbei – ein Blick in
die Ferne, in eine ungewisse Zukunft – zwei Kinder in ihrem Arm,
die Gesichter an die Schultern der Mutter gelehnt und abgewandt. Die
schwarz-weiß Fotografie von Dorothea
Lange („Migrant
Mother“, 1935, )
ist ein weltberühmtes Zeugnis der Großen Depression der 1930er
Jahre in Amerika. 

Mein
heutiges Titelbild zeigt ebenfalls eine Mutter mit ihrem Kind – ein
Moment großer Verbundenheit.

Doch
wer ist Dorothea Lange? Die Fotografin gilt als Ikone der Sozial- und
Dokumentarfotografie.

1895
in Hoboken, New Jersey , geboren, erkrankt sie mit sieben Jahren an
Kinderlähmung, wodurch ihr rechtes Bein von da an gelähmt bleibt.
Für sie ist diese Behinderung richtungsweisend, lehrend – ihre
Mitschüler begegnen ihr jedoch mit Spott.

Dorothea
Lange beginnt auf Wunsch ihrer Mutter mit 18 Jahren eine Ausbildung
zur Lehrerin, sie selbst möchte aber Fotografin werden und arbeitet
neben ihrer Ausbildung in verschiedenen New Yorker Portätstudios.
1918 bricht sie mit ihrer Freundin Clarence H. White zu einer
Weltreise auf. Durch einen Raub all ihres Geldes in San Francisco ist
sie gezwungen die Reise abzubrechen und bleibt in dieser Stadt
hängen. Ein Jahr später eröffnet Dorothea Lange ihr erstes eigenes
Porträtstudio in San Francisco. Bestürzt von den zahlreichen
Obdachlosen und Arbeitsuchenden während der Jahre der Depression,
entschließt sie sich mit ihrer Kamera auf das Elend aufmerksam zu
machen. Ab 1935 ist Dorothea Lange im Dienst der Farm Security
Administration (FSA) und beginnt mit einer Fotoreportage über die
Bedingungen in den ländlichen Gegenden. Dabei entsteht die zu Beginn
beschriebene Fotografie.

Schonungslos
dokumentiert die Fotografin die bittere Armut: Hände
weg! Was ich fotografiere, das belästige ich nicht, ich pfusche
nicht hinein und arrangiere nichts. - Man muss die Kamera so
einsetzen, als würde man morgen erblinden. Ein visuelles Leben zu
führen ist ein ungeheures Unterfangen, im Grunde unerreichbar. Ich
habe nur eine Ahnung davon erlangt, eine winzige Ahnung. -
Dorothea
Langes Antworten auf die Frage: Was macht eine gute Fotografie aus?
Wo liegt das Besondere am Fotografieren? Wenn ich mir die Bilder von
ihr anschaue, spüre ich ihre sinnliche Präsenz - die Gegenwart
der Fotografin; ruhig, beobachtend, zeigend…

Die
Fotografien erzählen Geschichten von Menschen mit schweren
Schicksalen; Dorothea Lange erzählt diese präzise ohne zu stören.
Oder fühlte sich Dorothea Lange auch manchmal als Störfaktor, wie
es Evelyn Richter ab und an ging?!

Was
suchen wir in Fotografien, was suchen wir mit der Kamera?
Meine nächste Frage an die Fotografin. Wir sind immer auf der Suche
nach einem Teil der Wahrheit, die nicht sofort sichtbar ist. Das
Beobachten macht unsere Arbeit aus – still, leise, heimlich wird
auf den Auslöser gedrückt, um genau den einen Moment zu erfassen.

Dorothea
Lange stirbt 1965 in San Francisco. Mein verbrachter Tag mit ihr,
fußt auf fiktiven Gesprächen, die wiederum auf ihren Fotografien
und Textrecherchen basieren. Gerne hätte ich direkt und persönlich
mit ihr gesprochen, sie näher kennengelernt, denn ihr Lebensweg und
ihre Lebenswerke faszinieren mich zutiefst.


Literaturhinweise:

1.
Friedewald, Boris: Meisterinnen des Lichts. Große Fotografinnen aus
zwei Jahrhunderten. Prestel Verlag, München, London, New York, 2014,
S. 122-125.

2.
http://www.deutschlandfunk.de/fotografin-dorothea-lange-die-wirklichkeit-zu-sinnbildern.871.de.html?dram:article_id=333438

3.
Photographie des 20. Jahrhunderts. Museum Ludwig Köln, Benedikt
Taschenverlag, Köln, 1996, S. 370-371.